#577 Meine Vorurteile über agile Frameworks
Auch wenn man mich vielleicht primär dem klassischen Projektmanagement zurechnen würde, so bin ich agilem Denken und agilen Methoden mehr als aufgeschlossen. Wer ein humanistisches Weltbild hat, hat auch mit den Idealen des Agilen Manifests kein Problem. Iterative Vorgehensweisen waren da, wo sie einsetzbar sind schon immer eine hervorragende Strategie um Risiken zu minimieren und Quick-Wins zu realisieren. An meine Grenzen stoße ich bei den verschiedenen agilen Frameworks aber an zwei Stellen:
- Ihrer Ideologisierung
- Der Formalisierung
Im ersten Punkt kommt es häufig zu dem Missverständnis, dass wer nicht „agil“ auf seinen Fahnen stehen hat, wohl auch agile Werte nicht teilt und unterstützt.
Im zweiten Punkt missfällt mir die idealtypische Formalisierung der Vorgehensweisen und Rollen in den agilen Frameworks. Wenn mein Kunde sich ebenfalls im Projektteam adäquat einbringt und idealerweise die Rolle des Product Owners einnimmt und ich eine offene und konstruktive Projektkultur habe, dann ist das ein Idealzustand, der in klassischen Szenarien ebenfalls hervorragend funktioniert, wenn dort die Rolle entsprechend beispielsweise im Anforderungsmanagement und in meinen Gremien besetzt ist und wahrgenommen wird. Erfolgsfaktor ist dann aber nicht das Framework, sondern die wahrgenommene Verantwortung und die gelebte (Projekt-)Kultur.
Ein Aha-Erlebnis hatte ich in der Lego for Scrum-Session von Tilman Moser auf dem PMCampRM. Tilman ließ uns in drei Scrum-Teams in drei Sprints an einer Lego-Stadt bauen. Ziel war Scrum „erfahrbar“ zu machen. Dadurch, dass das Spiel in einen Session-Slot gezwängt wurde, unterlag der Aufbau von Anfang an vielen Restriktionen und Abkürzungen. Schätzungen Retrospektiven kamen zu kurz und Tilman genoss es auch sichtlich seine Rolle als Product Owner in vollen Zügen auszureizen. Dieser nicht-ideale Aufbau mag Fehlentwicklungen im Verlauf erklären, ich halte ihn aber trotzdem für realistisch, weil wir auch in Scrum-Projekten nicht nur mit Gutmenschen zu tun habe, auch diese unter Stress und wandelnden Anforderungen, etc. stehen.
Bemerkenswert war, dass schon in diesem kleinen Aufbau die Gruppendynamik voll zuschlug und das leider nicht in dem Sinne, wie es Scrum vorsieht, sondern im schlimmsten tayloristischen Sinn. Dabei hatten wir zufällig sogar einen ausgebildeten Scrum Master an Board, aber die Denk- und Verhaltensweisen in unserem kleinen Team erinnerten mich eher an die aus den Modellen der Akkord-Arbeit bekannte Phänomene, als an agile Ideale. Nicht wissend, was wir zu erwarten hatten, waren wir in der ersten Sprint-Planung sehr zurückhaltend. Als wir dann noch die ersten Missverständnisse mit unserem Product Owner hatten und auch unsere Möglichkeiten zur Kommunikation mit ihm innerhalb der Sprints gar nicht genutzt haben (Es waren ja nur 5 Minuten je Sprint, aber trotzdem: Wir haben es nicht getan!). Als er uns dann – mit Genuss (Schweinebacke!) am Ende des ersten Sprints auflaufen ließ, schalteten wir sofort auf Abwehrverhalten um: Bloß keine Blöße geben, Preise nicht verderben,… Ganz 1.0 halt.
Jetzt war der ganze Aufbau „nur“ ein Spiel unter zugegeben ungünstigen Voraussetzungen, aber ich habe dabei mit Schrecken meine Vorurteile bestätigt gefunden. In einer nicht idealen Welt stoßen auch agile Frameworks an ihre Grenzen.
Tags: Agil, Lego, PMCampRM, SCRUM
20. Juli 2013 um 11:24
Das ist ja Sinn und Zweck meiner Simulation: Scrum in einer nicht idealen Welt auf die Probe zu stellen. Dabei gilt: Hier werden keine Probleme gelöst, sondern transparent aufgedeckt. Die beobachteten Verhaltensweisen sind für mich Basis des normalerweise anschließenden Coachings. Wie du ja schriebst musste ich das ganze leider zeitlich sehr begrenzen. Vor allem das Debriefing kam zu kurz. Aber ich finde es sehr schön, dass dies nun in Form dieses und vll weiterer Blogpostings doch noch weitergetragen wird!
20. Juli 2013 um 13:15
Gute Beobachtungen!
Was ich mich aber dabei frage:
Was genau ist denn dieses im obigen Text erwähnte „agile Denken“ und was sind denn die immer wieder zitierten „agilen Werte“? Was von dem hier http://www.korn.ch/archiv-open/scrum-day-berlin-2013/agile-organisation-scrumday2013.pdf auf den Seiten 24 bis 28 ist damit gemeint? Alles gleichzeitig? Na, dann ist das Wort „agil“ ein „Schwammwort“ und wenig hilfreich für eine konstruktive Diskussion…
Zur Formalisierung:
Genau DIESE ist ja IMHO einer der Gründe, weshalb sich Scrum – im Gegensatz etwa zur „Crystal Family“ – so breit durchsetzte: Es bietet einen trivialen Mechanismus an, der insbesondere auch die „Zahlenmanager“ erfreut:
Jetzt kann das Team „festgenagelt“ werden auf genau jene im Planning aus freien Stücken zugesagten „Stories“ und auf eine klat definierte „velocity“ in Storypoints/Spint… die es von Sprint zu Sprint zu erhöhen gilt…
Scrum ist also duchaus als Methode zur „Selbstausbeutung“ zu sehen – und passt damit bestens in diese aktuelle Business-Denke:
„“Management expects individuals in post-Fordist capitalism to be flexible, innovative, motivated, dynamic, modern, young, and agile, and it wants them to identify with the corporation and to have fun at work. Strategies of participatory management aim at the ideological integration of laborers into corporations. This is a new quality of the disciplinary regime that aims at a rise of profits by an increase in productivity and cost reductions achieved by the workers’ permanent self-discipline““
(Vgl.: Prof. Christian Fuchs, University of Westminster; http://fuchs.uti.at/ “Internet and Society: Social Theory in the Information Age” New York: Routledge. ISBN 0415961327)
21. Juli 2013 um 10:52
Was die agilen Werte angeht, würde ich auf das Agile Manifest referenzieren, auch wenn ein einzelnes Dokument sicher keinen Alleinvertretungsanspruch rechtfertigt. Aber mit dem Agilen Manifest geht ja schon leider die Crux mit der moralisierenden Haltung los, nach der dann andere Ansätze automatisch als weniger „moralisch“ abgewertet werden.
Agiles Denken ist sicherlich ein Buzzword. Irgendwie hat es mit iterativem Vorgehen zu tun, ist geprägt von agilen Werten und hat eigene (formale) Rollenmuster und Modelle. Letztere sind großartig, ich habe nur insofern ein Problem damit, sie als die einzig wahren und gültigen Modelle zu akzeptieren. Da bleibt der Kontext und die situations- sowie die organisationsspezifische Ausprägung schnell mal auf der Strecke.
21. Juli 2013 um 20:52
Das war auch nicht als Kritik an deiner Session gemeint. Ich muss aber zugeben, dass ich selbst erschrocken bin, wie schnell wir auf solche Phänomene gestoßen sind. Ich glaube, dass die formalen Rollen der Frameworks dies eher begünstigen, auch wenn sie das gar nicht beabsichtigen und mit einem sehr idealistischen Weltbild an den Start gehen.