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Gelesen: Human Robot Agent

Nein, dies ist keine Rezension. Stattdessen möchte ich gerne 5 Themen aus Jurgen Appelos neuen Buch Human Robot Agent aufgreifen und vielleicht auch weiterspinnen. 
Appelo, Jurgen. Human Robot Agent: New Fundamentals for AI-Driven Leadership with Algorithmic Management, Rotterdam 2025, ISBN-13: 978-90-834236-2-3 (Amazon)

1. Der Niedergang des Agilen

Mit seinem Management 3.0 hat Jurgen Appelo die Ideen agiler Softwareentwicklung auf das Management übertragen. Er war somit einer derjenigen, die den Grundstein für den agilen Hype der letzten Jahre gelegt haben. Mit seinen Wurzeln in der Systemtheorie war er ein Vordenker. Und was jetzt? Jetzt schließt sich ausgerechnet dieser Vordenker dem Abgesang an – zumindest dem Abgesang auf den agilen Mainstream. Und Jurgen fragt, warum agiles Arbeiten heute in vielen Unternehmen versagt.

Er führt dafür zehn Punkte an:

  • Der Zertifizierungswahnsinn
  • Überladene Frameworks
  • Agiler Dogmatismus
  • Modeerscheinungen und Modetrends
  • Eine fragwürdige Interpretation der neuen Rollen
  • Eine Überbetonung der Velocity (Geschwindigkeit über Ergebnis)
  • Ein Management-Vakuum aufgrund der Fokussierung auf Teamautonomie und der gleichzeitigen Vernachlässigung bewährter Managementpraktiken
  • Fehlende Abstimmung mit der Strategie (Methoden über Wirkung)
  • Die grundsätzliche Frage, ob Werte und Prinzipien des agilen Manifests im Zeitalter von AI nicht überholt sind

Er stellt fest:
„The Agile Manifesto was an incredibly influential breakthrough achievement. But it was written in the age of the Third Industrial Revolution. And it’s true that many companies still struggle to grasp its basic ideas. However, in the meantime, the underlying paradigm has shifted. To survive the Fourth Industrial Revolution, we must rewrite the core values and principles that once made Agile revolutionary. We should stop migrating organizations to an outdated operating system.“

Aber auch:
„Organizations need agility more than ever.“

Für meinen Geschmack geht Jurgen etwas zu hart mit der Agilität ins Gericht. Was am Ende ist, ist der Hype um die agile Transformation, der häufig kaum diesen Namen verdient hat. Agilität an sich ist zeitlos – und war es schon immer. Schon lange vor der Erfindung des Begriffs waren erfolgreiche Projektmanager:innen agil und werden es auch weiterhin sein. Ausgelutscht ist lediglich die Managementmode mit diesem Titel, nicht die dahinterliegenden Ideen und Prinzipien.

Auf die Frage „Und was kommt jetzt?“ ist seine Antwort klar: die vierte industrielle Revolution – alias Künstliche Intelligenz. Allerdings würde sich hier ein differenzierterer Blick lohnen. Keine Frage, die KI/AI wirbelt gerade vieles durcheinander. Und auch wenn wir schon mittendrin stecken, können wir die Tragweite noch gar nicht abschätzen. Die Strömungen, die aus den „Revolutionen“ resultieren, lösen einander nicht ab – sie existieren nebeneinander, auch wenn sich die Gewichte verschieben. Auch  wenn die AI gerade dominiert, gibt es in Teilbereichen noch die Facetten der vorherigen Revolutionen.

Selbst klassische Managementpraktiken aus der Welt der Produktion haben daher noch ihre Berechtigung. Wir müssen nur ihre Anwendung kritisch hinterfragen und jeweils entscheiden, ob sie in der konkreten Situation noch angemessen sind.

Als Management-Mode hat die AI aber sicher die agile Transformation abgelöst – obwohl das wiederum nicht ganz richtig ist, denn die Künstliche Intelligenz baut auf der Digitalisierung auf. So gesehen eine Fortsetzung auf einem anderen Level.

Aber bitte nicht falsch verstehen: Meine Skepsis gilt nicht der Künstlichen Intelligenz, sondern den Managementmoden. Ich bin grundsätzlich kein Freund von Moden. Die willigen Jünger haben sich nun ein neues Pferd ausgesucht, auf das sie genauso unreflektiert setzen, wie auf das vorherige. Ich fürchte, die Heerscharen agiler Coaches, die gerade auf der einen Seite hinauskomplimentiert werden, kehren auf der anderen Seite mit neuen AI-Zertifikaten in die Unternehmen zurück. Die geposteten Zertifikate auf LinkedIn sprechen bereits eine deutliche Sprache.

2. Beyond VUCA

Wenn VUCA nicht mehr reicht – Willkommen in BANI! Oder vielleicht besser: in MARVIS. Denn Jurgen Appelo geht über das gängige Denken in Unsicherheiten hinaus und liefert ein Framework, das differenzierter, aktueller und handhabbarer ist: Das Wicked Framework.

Zunächst ein kurzer Rückblick: VUCA steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Es wurde vor allem im militärischen Kontext geprägt und hat später Einzug in die Managementwelt gehalten. Doch Appelo meint: Diese vier Begriffe sind nicht mehr ausreichend, um die heutigen Herausforderungen zu beschreiben.

Er beschreibt zunächst das BANI-Modell (Brittle, Anxious, Nonlinear, Incomprehensible), zeigt aber auch seine Schwächen auf.

Deshalb schlägt Appelo ein eigenes Modell vor: das Wicked Framework – bestehend aus den sechs Dimensionen Modularity, Ambiguity, Reflexivity, Volatility, Intricacy und Scalability, kurz: MARVIS. Jede Dimension beschreibt einen bestimmten Aspekt der Unsicherheit. Für jede Dimension definiert Appelo drei typische Ausprägungen. Praktisch gedacht: eine Matrix zur Einordnung und zum Umgang mit komplexen Problemen.

Was daran spannend ist: Statt einer eindimensionalen Sicht auf Komplexität bietet MARVIS ein skalierbares, differenziertes Bild. Führungskräfte können systematisch reflektieren, wo ihre Herausforderungen liegen – und gezielt darauf reagieren.

Ein Beispiel: In einem System mit hoher Modularität und geringer Skalierbarkeit braucht es andere Interventionen als in einem hochvolatilen, reflexiven Umfeld.

Appelo träumt dann davon in den Profilen des MARVIS Modells Archetypen identifizieren zu können und für diese übertragbare Lösungsansätze zu entwickeln. Böse gesagt: Patentrezepte für Komplexität.

Da mag der Wunsch Vater des Gedanken sein, aber Träumen darf man ja.

3. Küchenwerkzeuge

Appelo nutzt eine Küchenmatapher und vergleicht Management-Tools mit Küchenwerkzeugen:
„Management tools, like kitchen tools, are built for predictable use cases. Strategic planning frameworks and stage-gate processes thrive in stable environments with familiar market dynamics. They’re great for whipping up tried-and-true dishes—or even new ones, provided the management paradigm remains unchallenged. The problem lies in today’s fast-changing, innovation-driven world. Standard tools fall short in new contexts. It’s like trying molecular gastronomy in a kitchen designed for Asian cuisine.“

Er schwärmt von der Einfachheit:
„Here’s what I noticed: the simpler the tool, the more often I use it. […] The simplest tools are the ones you’ll use most, and having a diverse range of devices equips you to tackle a broad array of challenges. In management, as in the kitchen, the rule is straightforward: Keep it simple and go wide.“

Und trotzdem brauchte es eine Vielfalt:
„Your management kitchen needs tools for both Michelin-star precision and grandma-level improvisation.“

Auch wenn wir mit unseren Werkzeugen in turbulenten Zeiten an unsere Grenzen stoßen:
„In a turbulent business landscape, traditional management tools are about as useful as an umbrella in a hurricane. They can’t handle the full buffet of uncertainty.“

4. Pattern Language & Pattern Library

Jurgen Appelo greift ein Konzept auf, das ursprünglich aus der Architektur stammt: die Pattern Language nach Christopher Alexander. Die Idee: Komplexe Systeme werden verständlich und gestaltbar, wenn wir sie in wiederkehrende Muster zerlegen – und diese Muster miteinander verknüpfen.

Was ist eine Pattern Language?
Eine Mustersprache beschreibt, wie einzelne Muster miteinander in Beziehung stehen und gemeinsam ein ganzes System formen. Muster sind keine Rezepte – sie sind situationsabhängige Lösungsbausteine. Der Clou: Durch die Verbindungen entsteht ein gestaltbares Ganzes.

Und was bringt das?
Vor allem eine eigene Sprache, die die Kommunikation über unsere komplexe Aufgabenstellung voranbringt und ganzheitliches Denken fördert.

Darüber hinaus:

  • Verständlichkeit durch Wiederholung
  • Reuse statt Re-Invention
  • Adaptivität durch Kombinierbarkeit

Und was ist eine Pattern Library?
Das ist die Sammlung dieser Muster – ein Werkzeugkasten. Wie ein LEGO-Set, aus dem du dein eigenes Bauwerk entwerfen kannst. Oder, um bei Appelos Metapher zu bleiben: eine gut ausgestattete Küche, in der du nach deinem eigenen Rezept kochst.

Und warum mich Pattern Language und Pattern Library so faszinieren?
Nun unsere Table of Elements (das hat jetzt gar nichts mit Appelo zu tun) ist so eine Pattern Library für das Projektmanagement. Wir haben im Projektmanagement gelernt Probleme zu erkennen und zu beschreiben und mit Hilfe einer solchen Library können wir sie bearbeiten.

5. Achso, AI und so…

Die AI ist noch ein bisschen zu kurz gekommen. Sie spielt bei Jurgen eine zentrale Rolle: 
„The relentless pace of technological change, particularly with AI, has transformed the business landscape into a shifting sand dune. Yesterday’s disruptor becomes today’s dinosaur, and your biggest competitor might be a startup no one had heard of last Tuesday.“

Er ist aber kein Kultur-Pessimist und zeigt, wo der Mensch noch gebraucht wird:

  • bei komplexen Problemlösungen
  • bei Technologiekompetenz: Zu wissen, wie KI funktioniert und wie man sich ihre Fähigkeiten zunutze macht, wird für viele Unternehmen entscheidend sein.
  • Körperliche Fertigkeiten
  • Soft Skills: Starke Kommunikations-, Kooperations- und Empathiefähigkeiten
  • Kreatives Denken

Appelo schreibt nicht nur über AI, sondern auch mit Hilfe der AI und kokettiert mit seinen Agenten. Er beschreibt die Circles of AI, AI Use Case Patterns und erklärt uns warum aus den T-shaped Helden im Zeitalter von AI jetzt M-skilled Heroen werden:
„The goal is to become M-shaped, combining mastery across multiple fields with strong business and leadership skills. For example, a product manager might also become an online marketer and video editor. A finance manager could develop additional strategic and technical abilities. With AI handling specialized work, people can tackle complex problems and think creatively across multiple disciplines.“

Fazit

Natürlich habe ich nur ein paar Schlaglichter auf  Jurgen Appelos Human Robot Agent werfen können. Aber vielleicht hat das ja gereicht, um Appetit zu wecken, denn eine Leseempfehlung ist es allemal.

Komplexe Systeme

Mit der Unterscheidung kompliziert – komplex nehmen es viele nicht so genau, dabei ist sie durchaus sinnvoll. Komplizierte Systeme sind (auch wenn es nicht einfach ist) trotz allem planbar, steuerbar und beherrschbar. Bei komplexen System haben wir vielleicht eine Ahnung oder können ex-post Erklärungsmuster liefern, durch ihre Vernetzung, Rückkopplung und Wechselwirkung überraschen sie uns immer wieder aufs Neue oder wie es mein Beraterkollege Olaf Hinz sagt: „Komplexität bedeutet, da kommt immer noch was nach.“ (Das Zitat stammt übringens aus dem frisch erschienen Buch #PM2025.)

Nimmt man es mit der Unterscheidung nicht so genau, dann kann das schon einmal unfreiwillig komisch werden, wie in diesem Werbespot aus dem Internet,  über den ich zufällig gestolpert bin. Expertenwissen á la Dr. Best und Komplexitätsunverständnis auf Youtube:

Das Uhrwerk, von dem die Expertin weiß, wie man es am Laufen hält ist ein kompliziertes System, aber kein komplexes – sonst könnte sie das nie so genau wissen.

Ein komplexes System ist allerdings in der Tat die Verdauung. Dieses lässt sich auch mit Medikamenten behandeln, aber sicher nicht vollständig beherrschen´- zumindest können das weder Pharmazie noch Medizin, aber die sind ja auch keine Ingenieure…

Die Unterscheidung kompliziert – komplex ist jetzt nicht nur akademisch, sondern hochgradig sinnvoll, weil es im Umgang mit komplizierten Systemen andere Strategien erfordert als bei komplexen Systemen. Im Cynefin-Modell werden daneben noch einfache und chaotische Systeme unterschieden.

Mehr dazu in meinem Beitrag zur letztjährigen Blog-Parade für das PM-Camp Berlin: Vielfalt statt Beliebigkeit

Context Map im Projektmagazin

Die Context Map von schlossBlog hat es in die Methodensammlung des Projektmagazins geschafft. Die Context Map ist eine spezifisch konfigurierbare Form der Umfeldanalyse. Varianten der der Umfeldanalyse gibt es viele: Angefangen von Stakeholderanalyse, Branchenanalyse, Systemmodellierungen und viele mehr.

Ein eigenes Erklärvideo zur Context Map gibt es übrigens  auch.

Und das Template steht in verschiedenen Formaten zum Download bereit:

Context-Map DIN A4
Context-Map DIN A3
Context-Map DIN A2
Context-Map DIN A1
Context-Map DIN A0

Ursprünglich erschien die Context Map hier:

Kontextanalyse

Grenzen der Modellbildung, Grenzen der Wahrnehmung

System Denken und unsere Wahrnehmung sind sich sehr ähnlich und beruhen auf den gleichen Prinzipien.

Unsere reale Welt ist gekennzeichnet durch Akteure und deren Interaktionen, die sich gegenseitig beeinflussen.

Unsere VUCA Welt ist komplex. Wir können versuchen sie als System zu verstehen.

Wir können Akteure und Interaktionen identifizieren und beschreiben.

Ein System ist zunächst durch seine Systemgrenzen gekennzeichnet.

Was ist System und was ist Umwelt?

Wir können die Welt in der wir leben beobachten und analysieren.

Zwar sind wir keine unabhängigen Beobachter (wir sind schließlich selbst Teil des Systems und stehen mit diesem in Interaktion oder sind sogar selbst Bestandteil des Systems – wer das nicht glauben mag, dem sei der Erzählband  „Die New York Triologie“ von Paul Auster empfohlen).

Elementar für diese Analyse unserer Welt ist unsere Wahrnehmung.

Auch das in diesem Artikel entwickelte Modell ist selbstbezüglich.

😉

Wir können verschiedene Felder identifizieren und unsere Interpretatiton und Deutung kann beginnen.

Und erst die Verarbeitung unserer Wahrnehmung, unserer Sinneseindrücke erlaubt Lernen.

Der Lenprozess, unsere Erkenntnis erlaubt eine Modellbildung.

Das Modell ist etwas in sich eigenständiges, mit dem wir versuchen ein System/die reale Welt zu beschreiben.

Modell und Realität haben die gleichen (farbigen) Felder gemein. Und doch sind sie sehr unterschiedlich. Statt der konkreten Interaktionen finden sich nur mehr Muster.

Im Modell wurde die Komplexität reduziert. Das kann hilfreich sein und gleichzeitig beliebig falsch. Es ist auf jeden Fall Vorsicht geboten.

Unsere Wahrnehmung funktioniert genauso wie diese Form des System Denkens. Die Projektion auf unsere Netzhaut wird letztlich durch einen kognitven Prozess in ein Modell unserer Umwelt übertragen. Unsere Wahrnehmung ist eines unserer schärfsten Werkzeuge, aber wie uns Sinnestäuschungen vor Augen führen: Fehleranfällig, wie jede Systemmodellierung.

Die Grenzen des System Denkens und die Grenzen unserer Wahrnehmung sind sich nicht unähnlich.

Trotzallem ist System Denken wichtig und hilfreich. (Ohne unsere Wahrnehmung könnten wir ja auch nicht leben.) Wir sollten uns lediglich dieser Grenzen bewusst sein und unsere Modelle/unsere Wahrnehmung reflektieren und hinterfragen.

Beitrag #746 auf schlossBlog

Dieser Post  ist inspiriert von Susan Gasson, deren Beitrag die grafische Darstellung entlehnt ist.



bernhardschloss.de