Gelesen: Human Robot Agent

Nein, dies ist keine Rezension. Stattdessen möchte ich gerne 5 Themen aus Jurgen Appelos neuen Buch Human Robot Agent aufgreifen und vielleicht auch weiterspinnen. 
Appelo, Jurgen. Human Robot Agent: New Fundamentals for AI-Driven Leadership with Algorithmic Management, Rotterdam 2025, ISBN-13: 978-90-834236-2-3 (Amazon)

1. Der Niedergang des Agilen

Mit seinem Management 3.0 hat Jurgen Appelo die Ideen agiler Softwareentwicklung auf das Management übertragen. Er war somit einer derjenigen, die den Grundstein für den agilen Hype der letzten Jahre gelegt haben. Mit seinen Wurzeln in der Systemtheorie war er ein Vordenker. Und was jetzt? Jetzt schließt sich ausgerechnet dieser Vordenker dem Abgesang an – zumindest dem Abgesang auf den agilen Mainstream. Und Jurgen fragt, warum agiles Arbeiten heute in vielen Unternehmen versagt.

Er führt dafür zehn Punkte an:

  • Der Zertifizierungswahnsinn
  • Überladene Frameworks
  • Agiler Dogmatismus
  • Modeerscheinungen und Modetrends
  • Eine fragwürdige Interpretation der neuen Rollen
  • Eine Überbetonung der Velocity (Geschwindigkeit über Ergebnis)
  • Ein Management-Vakuum aufgrund der Fokussierung auf Teamautonomie und der gleichzeitigen Vernachlässigung bewährter Managementpraktiken
  • Fehlende Abstimmung mit der Strategie (Methoden über Wirkung)
  • Die grundsätzliche Frage, ob Werte und Prinzipien des agilen Manifests im Zeitalter von AI nicht überholt sind

Er stellt fest:
„The Agile Manifesto was an incredibly influential breakthrough achievement. But it was written in the age of the Third Industrial Revolution. And it’s true that many companies still struggle to grasp its basic ideas. However, in the meantime, the underlying paradigm has shifted. To survive the Fourth Industrial Revolution, we must rewrite the core values and principles that once made Agile revolutionary. We should stop migrating organizations to an outdated operating system.“

Aber auch:
„Organizations need agility more than ever.“

Für meinen Geschmack geht Jurgen etwas zu hart mit der Agilität ins Gericht. Was am Ende ist, ist der Hype um die agile Transformation, der häufig kaum diesen Namen verdient hat. Agilität an sich ist zeitlos – und war es schon immer. Schon lange vor der Erfindung des Begriffs waren erfolgreiche Projektmanager:innen agil und werden es auch weiterhin sein. Ausgelutscht ist lediglich die Managementmode mit diesem Titel, nicht die dahinterliegenden Ideen und Prinzipien.

Auf die Frage „Und was kommt jetzt?“ ist seine Antwort klar: die vierte industrielle Revolution – alias Künstliche Intelligenz. Allerdings würde sich hier ein differenzierterer Blick lohnen. Keine Frage, die KI/AI wirbelt gerade vieles durcheinander. Und auch wenn wir schon mittendrin stecken, können wir die Tragweite noch gar nicht abschätzen. Die Strömungen, die aus den „Revolutionen“ resultieren, lösen einander nicht ab – sie existieren nebeneinander, auch wenn sich die Gewichte verschieben. Auch  wenn die AI gerade dominiert, gibt es in Teilbereichen noch die Facetten der vorherigen Revolutionen.

Selbst klassische Managementpraktiken aus der Welt der Produktion haben daher noch ihre Berechtigung. Wir müssen nur ihre Anwendung kritisch hinterfragen und jeweils entscheiden, ob sie in der konkreten Situation noch angemessen sind.

Als Management-Mode hat die AI aber sicher die agile Transformation abgelöst – obwohl das wiederum nicht ganz richtig ist, denn die Künstliche Intelligenz baut auf der Digitalisierung auf. So gesehen eine Fortsetzung auf einem anderen Level.

Aber bitte nicht falsch verstehen: Meine Skepsis gilt nicht der Künstlichen Intelligenz, sondern den Managementmoden. Ich bin grundsätzlich kein Freund von Moden. Die willigen Jünger haben sich nun ein neues Pferd ausgesucht, auf das sie genauso unreflektiert setzen, wie auf das vorherige. Ich fürchte, die Heerscharen agiler Coaches, die gerade auf der einen Seite hinauskomplimentiert werden, kehren auf der anderen Seite mit neuen AI-Zertifikaten in die Unternehmen zurück. Die geposteten Zertifikate auf LinkedIn sprechen bereits eine deutliche Sprache.

2. Beyond VUCA

Wenn VUCA nicht mehr reicht – Willkommen in BANI! Oder vielleicht besser: in MARVIS. Denn Jurgen Appelo geht über das gängige Denken in Unsicherheiten hinaus und liefert ein Framework, das differenzierter, aktueller und handhabbarer ist: Das Wicked Framework.

Zunächst ein kurzer Rückblick: VUCA steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Es wurde vor allem im militärischen Kontext geprägt und hat später Einzug in die Managementwelt gehalten. Doch Appelo meint: Diese vier Begriffe sind nicht mehr ausreichend, um die heutigen Herausforderungen zu beschreiben.

Er beschreibt zunächst das BANI-Modell (Brittle, Anxious, Nonlinear, Incomprehensible), zeigt aber auch seine Schwächen auf.

Deshalb schlägt Appelo ein eigenes Modell vor: das Wicked Framework – bestehend aus den sechs Dimensionen Modularity, Ambiguity, Reflexivity, Volatility, Intricacy und Scalability, kurz: MARVIS. Jede Dimension beschreibt einen bestimmten Aspekt der Unsicherheit. Für jede Dimension definiert Appelo drei typische Ausprägungen. Praktisch gedacht: eine Matrix zur Einordnung und zum Umgang mit komplexen Problemen.

Was daran spannend ist: Statt einer eindimensionalen Sicht auf Komplexität bietet MARVIS ein skalierbares, differenziertes Bild. Führungskräfte können systematisch reflektieren, wo ihre Herausforderungen liegen – und gezielt darauf reagieren.

Ein Beispiel: In einem System mit hoher Modularität und geringer Skalierbarkeit braucht es andere Interventionen als in einem hochvolatilen, reflexiven Umfeld.

Appelo träumt dann davon in den Profilen des MARVIS Modells Archetypen identifizieren zu können und für diese übertragbare Lösungsansätze zu entwickeln. Böse gesagt: Patentrezepte für Komplexität.

Da mag der Wunsch Vater des Gedanken sein, aber Träumen darf man ja.

3. Küchenwerkzeuge

Appelo nutzt eine Küchenmatapher und vergleicht Management-Tools mit Küchenwerkzeugen:
„Management tools, like kitchen tools, are built for predictable use cases. Strategic planning frameworks and stage-gate processes thrive in stable environments with familiar market dynamics. They’re great for whipping up tried-and-true dishes—or even new ones, provided the management paradigm remains unchallenged. The problem lies in today’s fast-changing, innovation-driven world. Standard tools fall short in new contexts. It’s like trying molecular gastronomy in a kitchen designed for Asian cuisine.“

Er schwärmt von der Einfachheit:
„Here’s what I noticed: the simpler the tool, the more often I use it. […] The simplest tools are the ones you’ll use most, and having a diverse range of devices equips you to tackle a broad array of challenges. In management, as in the kitchen, the rule is straightforward: Keep it simple and go wide.“

Und trotzdem brauchte es eine Vielfalt:
„Your management kitchen needs tools for both Michelin-star precision and grandma-level improvisation.“

Auch wenn wir mit unseren Werkzeugen in turbulenten Zeiten an unsere Grenzen stoßen:
„In a turbulent business landscape, traditional management tools are about as useful as an umbrella in a hurricane. They can’t handle the full buffet of uncertainty.“

4. Pattern Language & Pattern Library

Jurgen Appelo greift ein Konzept auf, das ursprünglich aus der Architektur stammt: die Pattern Language nach Christopher Alexander. Die Idee: Komplexe Systeme werden verständlich und gestaltbar, wenn wir sie in wiederkehrende Muster zerlegen – und diese Muster miteinander verknüpfen.

Was ist eine Pattern Language?
Eine Mustersprache beschreibt, wie einzelne Muster miteinander in Beziehung stehen und gemeinsam ein ganzes System formen. Muster sind keine Rezepte – sie sind situationsabhängige Lösungsbausteine. Der Clou: Durch die Verbindungen entsteht ein gestaltbares Ganzes.

Und was bringt das?
Vor allem eine eigene Sprache, die die Kommunikation über unsere komplexe Aufgabenstellung voranbringt und ganzheitliches Denken fördert.

Darüber hinaus:

  • Verständlichkeit durch Wiederholung
  • Reuse statt Re-Invention
  • Adaptivität durch Kombinierbarkeit

Und was ist eine Pattern Library?
Das ist die Sammlung dieser Muster – ein Werkzeugkasten. Wie ein LEGO-Set, aus dem du dein eigenes Bauwerk entwerfen kannst. Oder, um bei Appelos Metapher zu bleiben: eine gut ausgestattete Küche, in der du nach deinem eigenen Rezept kochst.

Und warum mich Pattern Language und Pattern Library so faszinieren?
Nun unsere Table of Elements (das hat jetzt gar nichts mit Appelo zu tun) ist so eine Pattern Library für das Projektmanagement. Wir haben im Projektmanagement gelernt Probleme zu erkennen und zu beschreiben und mit Hilfe einer solchen Library können wir sie bearbeiten.

5. Achso, AI und so…

Die AI ist noch ein bisschen zu kurz gekommen. Sie spielt bei Jurgen eine zentrale Rolle: 
„The relentless pace of technological change, particularly with AI, has transformed the business landscape into a shifting sand dune. Yesterday’s disruptor becomes today’s dinosaur, and your biggest competitor might be a startup no one had heard of last Tuesday.“

Er ist aber kein Kultur-Pessimist und zeigt, wo der Mensch noch gebraucht wird:

  • bei komplexen Problemlösungen
  • bei Technologiekompetenz: Zu wissen, wie KI funktioniert und wie man sich ihre Fähigkeiten zunutze macht, wird für viele Unternehmen entscheidend sein.
  • Körperliche Fertigkeiten
  • Soft Skills: Starke Kommunikations-, Kooperations- und Empathiefähigkeiten
  • Kreatives Denken

Appelo schreibt nicht nur über AI, sondern auch mit Hilfe der AI und kokettiert mit seinen Agenten. Er beschreibt die Circles of AI, AI Use Case Patterns und erklärt uns warum aus den T-shaped Helden im Zeitalter von AI jetzt M-skilled Heroen werden:
„The goal is to become M-shaped, combining mastery across multiple fields with strong business and leadership skills. For example, a product manager might also become an online marketer and video editor. A finance manager could develop additional strategic and technical abilities. With AI handling specialized work, people can tackle complex problems and think creatively across multiple disciplines.“

Fazit

Natürlich habe ich nur ein paar Schlaglichter auf  Jurgen Appelos Human Robot Agent werfen können. Aber vielleicht hat das ja gereicht, um Appetit zu wecken, denn eine Leseempfehlung ist es allemal.

Zum Tod von Daniel Kahnemann

Mit 90 Jahren ist am 27. März Daniel Kahnemann gestorben. Andrian Kreye schreibt über ihn in der Süddeutschen Zeitung:

Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman hat den Mythos vom vernünf­tigen „Homo oeconomicus“ entzaubert und mit seinen Büchern ein Millionenpublikum begeistert. […]

[…], der Mann, der den Menschen gezeigt hat, wie sie denken und wie sie handeln. Der das Forschungsfeld der Verhaltensökonomie begründete und dafür 2002 einen Wirtschaftsnobelpreis bekam. […]

Er wusste um die Grenzen des Denkens bei den anderen, und deswegen auch bei sich selbst. […]

Es war vor allem seine Unterscheidung zwischen dem „schnellen Denken“ der Impulse und Emotionen und dem „langsamen Denken“ der Vernunft und Risikoabschätzung, die seine Wissenschaft der Verhaltensökonomie einer breiten Leserschaft begreiflich machte. […]

Sein Buch „Schnelles Denken, langsames Denken habe ich hier auch schon aufgegriffen. Aus gegebenem Anlass hier noch einmal:


Daniel Kahnemanns mehr als lesenswertes Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ ist so etwas wie das Resümee eines großartigen Denkers. Kahnemann führt auch den Laien in die state-of-the-art  Kognitionspsychologie ein und zeigt, wissenschaftlich fundiert und trotzdem leicht lesbar wie wir „Ticken“ und „Entscheiden“. Gleichzeitig ist es so etwas wie die Bilanz eines Lebenswerkes.

Das Rationaltiätskonzept eines Homo Oeconomicus ist längst überholt und Kahnemann hat für seinen Beitrag zur Neuen Erwartungstehorie immerhin den Wirtschafts-Nobelpreis bekommen.

Kahnemann beschreibt das Modell zweier kognitiver Systeme (System 1: für schnelles Denken, System 2: für langsames Denken) und deren Zusammenspiel.


Den ganzen Beitrag lesen…

Gelesen: Luther für Innovatoren

Hagmann, Jean-Phillippe. Luther für Innovatoren – 95 Thesen, Innovation neu zu denken, Zürich 2023, ISBN: ‎ 9783952588604 (Amazon)

Aller guten Dinge sind 3 – zumindest bei Jean-Phillippe Hagmann. Nach dem Innovationstheater und dem Meta-Modell für agile Innovation jetzt Luther für Innovatoren. Aber eigentlich ist es diesmal kein Buch zum Lesen, sondern eher zum Stöbern. Viel Kurzstrecke, keine Langstrecke. Ein Format mit vielen Thesen zum Nachdenken, auch wenn die Luther Analogie etwas überstrapaziert wird (die Luther-Zitate haben mich jetzt weniger angesprochen).

Weniger große Botschaft als viele Denkanstöße. Und es würde mich nicht wundern, wenn ich immer wieder zu diesem Buch zurückkehren werde (was mir sonst eher selten passiert).

Jeder These folgen 1-2 Seiten zur Erläuterung, Thesen wie:

  • Erfolgreiche Innovationen sind niemals neu. Denn das wirklich Neue findet niemals breite Akzeptanz.
  • Die Idee wird konstant überbewertet. Doch die Idee ist nichts ohne Innovation.
  • Innovation ist für viele Unternehmen wichtig, muss aber meist warten, weil sie nicht dringend ist.
  • Der Fokus auf die Machbarkeit einer neuen Idee wird von Innovationsteams systematisch überbewertet.

Und davon mindestens 95 Stück. Natürlich finden sich Schlagworte wie Serendepität, Künstliche Intelligenz, aber auch Negativraum.

Nicht jeder These wird man folgen, vielleicht regt sich auch Widerspruch, aber das ist gut so und auch gewollt.

Ein schönes kleines Büchlein. Eine klare Empfehlung.

Gelesen: Facilitation

Holger Scholz, Roswitha Vesper, Facilitation, Dialog- und handlungsorientierte Organisationsentwicklung, München 2022, ISBN 978-3-8006-9494-8 (Amazon)

Von Ankündigung und Aufmachung war ich begeistert. Punkt. Und dann kam die Ernüchterung.

Scholz & Vesper präsentieren ihren Beratungsansatz – fair enough.

Aber der Verlag hätte gerne ein Facilitation Standardwerk – Fail.

Das Buch folgt konsequent dem Beratungsansatz der Kommmunikationslotsen, aber das ist halt nicht, was man als neutrale Beschreibung von Facilitation erwarten würde. Da ist leider jede Menge esoterischer Hokuspokus mit dabei, so mit indogenem Hintergrund und Himmelsrichtungen, Währenddessen der Verlag mehr so die übergreifende Standard-Trommel rührt.

Just a fail.

We call it bullshit.

Obwohl viele der Methoden und Checklisten im konkreten Ansatz mehr als wertvoll sind.

Aber scheiß drauf – Alt-68ern ist ihr eigener Geist durchgegangen.

Spannend fand ich insbesondere die detaillierteren Listen mit dem ersten Klienten-Feedback und den konkreten Reaktionsempfehlungen.

Eigentlich eine echte Empfehlung, aber definitiv nicht im Verlagssinn. Mit dem esoterischem Geschmarre habe ich kein Problem, so lange das klar trennbar ist.

Die beschriebenen Werkzeuge sind davon nicht betroffen.

Nach objektiven Kriterien bestenfalls eine 2 (von 5), während ich durchaus zwischen 3 und 4 schwanke, wobei ich dabei den esoterischen Hokuspokus bewusst ignoriere.

Gelesen: On Writing Well

William Zinsser, On writing well, The Classic Guide to Writing Nonfiction, 30th Anniversary Edition, New York/London/… 2006, ISBN 978-0-06-089154-1 (Amazon)

Nur zufällig bin ich über diesen englischsprachigen Klassiker über das Schreiben non-fiktionaler Texte gestolpert, aber die professionelle Einstellung des Autors und die Zeitlosigkeit faszinieren mich. William Zinsser ist Jahrgang 1922 und die erste Auflage dieses Buches erschien 1976. Und trotzdem liest sich das Buch modern.

Das liegt daran, dass Zinsser seine Botschaft von Auflage zu Auflage selbst immer wieder aufs Neue umgesetzt hat: Das Handwerk guter Texte verlangt vor allem Einfachheit und Klarheit und eine ständige Überarbeitung – Rewriting.

Die kontinuierliche Überarbeitung merkt man dem Buch in der aktuellen Auflage von 2006 (Zinsser ist 2015 verstorben) auch positiv an: Die vielen Beispieltexte beginnend in den 60er Jahren bis hinein ins neue Jahrtausend sind so ausgewählt, dass überhaupt nichts altbacken wirkt. Nur was der Zeit stand hält ist genblieben. Zinsser reflektiert selbst, dass es wohl Auflagen des Buches gab, die eine Einführung in die elektronische Textverarbeitung enthielten, die mittlerweile aber längst nicht mehr erforderlich und entsprechend auch wieder herausgeflogen ist.

Diese Zeitlosigkeit – Verdienst der kontinuierlichen Überarbeitung – ist wirklich bemerkenswert.

Zu meinen ganz eigenen Learnings der Lektüre gehören die auditive und visuelle Wirkung geschriebener Texte. Wenn ein Leser/Konsument den Text in Gedanken liest, dann sollte der Autor den Text auch schon laut gesprochen/gelesen haben, um sich der Wirkung seiner Worte bewusst zu sein. Und auch der Satz des Textes hat eine visuelle Wirkung (Stichwort: Bleiwüste). Wir sollten uns auch bewusst sein, dass wir bei geschriebenen Texten eine andere Fehlertoleranz als bei gesprochenen Texten haben: Beim gesprochenen Wort sind wir viel nachsichtiger und korrigieren Fehler im Kopf von selbst, während für uns Fehler in geschriebenen Texten ein Indiz für die Nachlässigkeit des Autors sind. Wir messen dann mit zweierlei Maß.

On writing well – Ein Klassiker, aber wer sich mit dem Handwerk des Schreibens ernsthaft auseinandersetzen will, dem sei das Werk gerne empfohlen.

Kreativität

Eigentlich könnte dieser Beitrag auch in der Rubrik „Gelesen“ stehen, denn Anlass war das kleine aber feine Buch von Dieter Geckler über Kreativität (Amazon Affiliate Link).

Dieter Geckler, Kreativität, bei Menschen, Teams und Organisationen, Norderstedt 2023, ISBN-13: 978-3-75783-512-5

Dieter Geckler ist ein Prozessmensch und so beschreibt er (nach einem Exkurs über die Geschichte der Kreativität) wie auf drei Ebenen (Einzelperson, Team, Organisation) ein kreativer Prozess abläuft. Natürlich nicht linear, sondern mit Sprüngen. Trotz aller gemachten Einschränkungen fühlt sich das Ganze aber doch sehr geordnet und strukturiert an. Er schreibt zwar, dass Kreativität nicht im Detail planbar ist aber bei der Lektüre fühlt es sich dann doch anders an. Und dann sind wir bei einem (Mikro-)Management für Kreativität.

Was mir fehlt sind Strategien zur Ermöglichung von Kreativität und da würden mir ein paar einfallen:

  1. (Frei-)Räume schaffen
  2. Lernbereitschaft und Fehlerkultur
  3. Visuelles Denken, Storytelling und Spielen
  4. Effectuation
  5. Verwertung und Speicherung
  6. Kommunikation und Austausch
  7. Machen!

Aber der Reihe nach…

ad 1 – (Frei-)Räume schaffen

Räume und Flächen nutzen kann man visuell und haptisch, aber natürlich auch im übertragenen Sinn. Wenn wir vollkommen ausgeplant sind, bleibt keine Zeit für Kreativität. Wir brauchen Zeit und Platz für eigene Ideen und Gedanken. Die müssen erst einmal gar nicht zielgerichtet sein, aber nur so lernen wir uns zu entfalten. Und natürlich widerspricht das unserem Effizienzdrang. Wollten wir nicht Verschwendung vermeiden? Manchmal müssen wir aber auch Unproduktivität ertragen, um auf einer anderen Ebene wieder produktiv werden zu können. Für solche Freiräume gibt es in der Managementlehre den Terminus des Organizational Slack.

ad 2 – Lernbereitschaft und Fehlerkultur

Neugier, Offenheit und Lernbereitschaft sind ebenso wichtig wie eine Fehlerkultur. Fehler sind kein Stigma, sondern ein Geschenk, die neues Lernen erlauben. Und doch sind wir bei Fehlern schnell nachtragend und suchen den Schuldigen, obwohl die Suche nach Schuldigen völlig absurd ist: Wir verschwenden weitere Energien, anstatt konstruktiv das Beste aus einer Situation zu machen.

ad 3 – Visuelles Denken, Storytelling und Spielen

Zugegeben einige meiner Lieblingsthemen. Wichtig in dieser Kategorie ist, dass uns diese Dinge helfen können, ohne dass sie bereits methodische Schärfe mit sich bringen. Im Gegenteil die Unschärfe ist ihre Stärke, sie bewahrt uns vor voreiligen Kurzschlüssen und regt zur weiteren Auseinandersetzung an. Das mag vielleicht „unwissenschaftlich“ sein, ist aber verdammt effektiv. (Wobei es durchaus wissenschaftliche Erklärungen für die Wirkungsweise gibt.)

ad 4- Effectuation

Effectuation hatten wir hier schon einmal. Die empirische Herleitung der Effectuation mag ich zwar überhaupt nicht, Ihre Prinzipien halte ich aber für wegweisend:

  • Das Prinzip der Mittelorientierung (Welche Mittel und Möglichkeiten stehen uns überhaupt zur Verfügung?)
  • Das Prinzip des leistbaren Verlusts (Wo ist unsere Schmerzgrenze? Wieviel Verlust können wir uns für Ausprobieren und Lernen leisten?)
  • Das Prinzip der Umstände und Zufälle – Neudeutsch: Serendepität
  • Vereinbarungen und Partnerschaften (Wieso alles allein machen? Unsere Partner sind auch ein Mittel dass wir wechselseitig gewinnbringend nutzen können.)

ad 5 – Verwertung und Speicherung

Dieter Geckler weist im Rahmen der Digitalisierung auf elektronische Bibliotheken, z.B. für unser CAD-Programm hin, aber wir können natürlich schon viel früher anfangen (Geckler verweist auf Zettelkästen), aber da gibt es natürlich auch Sketchbooks, Archive und alle möglichen Hilfsmittel, die wir im Prinzip kennen, aber dann doch zu faul sind, sie auch konsequent zu nutzen, um unsere Ideen und Gedanken auch wiederzufinden, aber das reicht noch nicht, wir wollen sie ja auch noch umsetzen verwerten oder nutzbar machen.

ad 6 – Kommunikation und Austausch

Der Diskurs über Kunst/Kreativität kann weitere Kreativität auslösen und nach sich ziehen (sofern er nicht zum Selbstzweck degeneriert). Ähnlich wie bei der Fehlerkultur ist hier auch Offenheit gefragt. Das Gegenteil sind Bücherverbrennung und Diffamierung als entartete Kunst. Aber auch im Guten verbirgt sich die Gefahr der Political Correctness, die zu Selbstbeschneidung und Zensur führt.

ad 7 – Machen!

Last but not least das Wichtigste: Wir wollen schließlich nicht nur über Kreativität philosophieren (was ja ok ist), sondern in die Puschen kommen. Innovationsprozesse können die Kreativität erdrücken. Und genau das wollen wir ja nicht. Wir wollen ja nicht die Innovationsmaschinerie anschmeißen, sondern in unserem Denken und Handeln kreativ sein. (Bei Geckler findet sich übrigens der schöne Begriff der Alltagskreativität.)

Diese Liste von Strategien zur Ermöglichung von Kreativität ist sicher unvollständig. Die einzelnen Strategien können sich auch ergänzen.

Aber wir wollen Kreativität ja nicht nur verwalten, sondern sie inspirieren und lostreten.

PS: Credits für die Illustration gehen übrigens an mein Töchterlein, bei der ich diese schon etwas älteren kolorierten Skribbels geklaut habe.

Gelesen: Future Organization Playbook

Wie, ich habe hier gar nicht über das „Digital Innovation Playbook“ geschrieben? Das war mit gar nicht bewusst und ich schätze es sehr. Es ist das erste von drei „Playbooks“ der Berliner Beratung Dark Horse und es zählt zu meinen Lieblingsbüchern.

Und das sind die drei Playbooks (Amazon):

Alle drei sind mit eigener Optik und Haptik im Murrmann-Verlag umgesetzt. Ein Traum für Bücherfreunde, aber leider etwas unpraktisch. Die zarten Farbeschemata und die feinen Schriftarten sind nicht nutzerfreundlich was scannen und kopieren angeht. Seufz. Und für ein Playbook, das ja im übertragenen Sinn Spielzüge und Vorlagen liefern will eigentlich ein böser Fehler. Naja, einige Downloadas gibt es dann immer auf der Homepage. Zur Verlagspolitik scheint es auch zu gehören, die Bücher nicht in einer digitalen Variante anzubieten – selbst ist der Mann…

Aber ich schweife ab, denn aktuell geht es ja um das im Frühjahr erschienene rote „Future Organization Playbook“.

Nach dem Erfolg des Gelben folgte, das mit dem Thema Arbeitsraumgestaltung doch etwas spezielle Grüne und jetzt das Rote mit dem Schwerpunkt Organisationsentwicklung und adaptive Strategie.

Adaptive Strategien, bzw. adaptive Organisationen sind das Kernstück des Roten.

Unter adaptiver Strategie versteht Dark Horse so etwas wie die Schnittmenge aus Transformationsfähigkeit und Innovationsfähigkeit. Letztere bilden den zweiten und dritten Teil des Buches, während das erste Drittel der adaptiven Strategie gewidmet ist. (Teil 4 enthält dann noch ein paar inhaltlich gute Essays, die leider nicht in vollständig in den vorderen Teil des Buche eingearbeitet wurden (als Lektor hätte ich euch damit nicht durchkommen lassen!),

Um ehrlich zu sein: wirklich abgeholt hat mich vor allem der erste Teil. Das soll kein Malus sein, denn das Thema Innovation wurde ja schon ausgiebig im gelben Playbook angesprochen und mag darüber hinaus auf meine persönlichen Interessen zurückgehen.

Um eines klarzustellen: Ich bin auch beim nächsten Playbook mit dabei und einen perfect match erwarte ich auch nicht (im Gegenteil: das käme mir suspekt vor).

Der Canvas-Freund freut sich am Strategie-Hexagon mit den Feldern:

  • Zweck
  • Kultur
  • Struktur
  • Spielfeld
  • Wertversprechen
  • Kompetenz

…mit dem gearbeitet und „gespielt“ wird.

In Anlehnung an Henry Mintzberg wird zwischen geplanten und emergenten Strategien unterschieden. Mit dem M/O/A-Modell aus Markierungen, Optionen entscheiden und Arbeit habe ich zunächst etwas gefremdelt (vor allem mit dem Begriff Markierungen). Letztlich dient es der Darstellung von geplanten und emergenten Strategien. Während geplante Strategien top top down von Markierungen über die (bewusste) Entscheidung zwischen Optionen entstehen und dann auf der Arbeitsebene umgesetzt werden, „passieren“ emergente Strategien bottom-up aus dem Tagesgeschäft in dem wir retrospektiv die Entscheidung über etwaige Optionen identifizieren können und die sich dann in unseren Markierungen, wie unseren Werten niederschlagen.

Natürlich gibt es auch wieder viele Methoden und Workshop-Designs, aber wie bereits erwähnt, bin ich vor allem beim Thema adaptive Strategien hängengeblieben.

Wer das Gelbe nicht kennt, wird sicher auch seine Freude an den Innovationsthemen haben – auch wenn das nur ein Appetizer auf mehr, nämlich dem gelben Playbook sein kann.

Aber genug für diesmal: Auch wenn das Gelbe mein Favorit ist, ist das Rote durchaus eine Empfehlung!

Dark Horse Innovation; Future Organization Playbook – Die unverzichtbare Anleitung für innovative Unternehmen in der Transformation; Hamburg, 2023, ISBN: 9783867747554

Best of… Gelesen: Innovationstheater

Als bibliophiler Mensch habe ich mit großem Vergnügen Jean-Philippe Hagmanns „Hört auf, Innovationstheater zu spielen!“ (Amazon Link) gelesen.

Ich muss gestehen, schon der erste optische Eindruck hat mich zum Kauf verführt und ich habe es nicht bereut, denn der Autor setzt sich kritisch und intelligent mit den Thema Innovation auseinander, liefert klare Vorstellungen und Konzepte, genauso wie anregende Beispiele.

Eine wirklich wertvolle Lektüre.

Aber genug der Lobhudelei, denn an zwei Stellen möchte ich dem Autor ganz massiv widersprechen:

(1) Innovationsabteilungen zur Avantgarde zu erklären ist Selbstverliebtheit und erschreckend überheblich. Innovation braucht kindliche Neugierde, aber kein überzogenes Selbstwertgefühl und Arroganz.

(2) So richtig die Unterscheidung von inkrementeller und radikaler Innovation auch sein mag, die dreidimensionale Darstellung im Buch weckt meinen Widerspruch. Der Autor beschreibt das Innovationsspektrum in einem Schema (*eigene Grafik in Anlehnung an J-P.H.):

Zu einer idealen Lösung wird man durch inkrementelle Verbesserungen nicht gelangen, so der Autor.  Weil Mauern uns im blauen Bereich zurückhalten werden.

Ich glaube dieses Bild ist falsch!

Nicht dass ich die Grenzen inkrementellen Vorgehens anzweifeln möchte, sondern wirklich radikale Innovationen, das was man als disruptive Entwicklungen bezeichnen würde, findet man im Bild nicht rechts oben. Disruptive Innovationen eröffnen einen neuen Raum – ein Paralleluniversum! Sie sprengen unsere Vorstellungskraft und finden nicht in diesem Bild statt!

Aber um die Kritik wieder gerade zu rücken: Das Buch bitte trotzdem lesen. Es macht nicht nur Spaß, sondern ist auch intelligent! Und wie gesagt der Bibliophile in mir mag handwerklich dieses Buch (einen lieben Gruß an Ralf, meinen eigenen Verleger!)

Es beschreibt Innovation in einem Spannungsfeld von Freiraum und Tagesgeschäft, betrachtet die erforderlichen Rollen und Aufgaben, das notwendige Prozessverständnis, aber vor allem die Voraussetzungen in Kultur und Mindset.

Neben vielen Beispielen und Anekdoten werden 12 Leitsätze der Innovation mitgegeben:

  1. Regeln brechen
  2. Perspektiven wechseln
  3. Problem lieben
  4. Risiken eingehen
  5. Viele Ideen produzieren
  6. Störfaktoren begrüßen
  7. Mit den Händen denken
  8. Geschichten erzählen
  9. Lieblinge begraben
  10. Fachgrenzen überschreiten
  11. Vorschussvertrauen schenken
  12. Anfängerin bleiben.

Rollen und Prozess werden stringent entwickelt und beschrieben.

Also: eine ganz klare Empfehlung und der Widerspruch als Herausforderung!

Jean-Philippe Hagmann, Hört auf, Innovationstheater zu spielen! : wie etablierte Unternehmen wirklich radikal innovativ werden, München 2018

Best of (Gelesen): Logik des Mißlingens

Dietrich Dörner, Die Logik des Misslingens, Strategisches Denken in komplexen Situationen, 11. Auflage, Hamburg 2012, ISBN-13: 978-3-499-61578-8 (Amazon Link)

Strategien für den Umgang mit komplexen Situationen hört sich wie ein Patentrezept für Projektarbeiter an. So trivial ist es aber nicht. Dörner identifiziert eher aus einer psychologischen Warte mögliche Handlungsoptionen und typische Fehler, das Ganze durchaus fundiert aus der Beobachtung von unzähligen Planspielen und Experimenten, aber auch aus der Analyse historischer Situationen wie dem Atomunfall in Tschernobyl.

Einen Schönheitsfehler hat  die Betrachtung allerdings: Dis Schlussfolgerungen werden nicht aus komplexen Situationen, sondern aus komplizierten gezogen. Planspiele haben feste Regeln, Operations Research hat eine vollständige Modellbildung der Welt, a posteriori lässt sich die Welt erklären – aber gerade das alles haben wir in komplexen Situationen ja nicht. Vielleicht ist diese Unsauberkeit im Umgang mit dem Komplexitätsbegriff auch dem ursprünglichen Erscheinungsdatum (1989) geschuldet. Nichtsdestotrotz sind die Darlegungen auch für komplexe Situationen hilfreich und fundiert.

Als eher erfolgversprechenden Handlungsoptionen nennt Dörner u.a.:

  • Arbeitshypothesen permanent hinterfragen und prüfen
  • Hohes Maß an Selbstorganisation und Strukturierung, Fähigkeit zur Selbstkritik
  • Dekomposition komplexer Situationen
  • Balance & Kompromiss
  • Umgestaltung des Systems (um negative Zielkonflikte und Abhängigkeiten aufzulösen)
  • Zielkonkretisierung
  • „Reperaturdienstverhalten“/Muddling-Through – Auch wenn Dörner die Gefahren eines solchen Verhaltens sieht (siehe unten): Behebung von Missständen ist die bessere Alternative zum Gar nichts tun.
  • Anpassung an wandelnde Kontexte/Kontextspezifisches Verhalten
  • Institutionelle Trennung von Informationssammlung und Entscheidung
  • Vorausschau zukünftiger Szenarios
  • Vorwärts- und Rückwärtsplanung
  • Strategien zur Suchraumeinengung:

o Heurismen
o Hill Climbing (nur solche Aktionen in Betracht ziehen, die einen Fortschritt in Richtung auf das Ziel versprechen mit der Gefahr auf einem Nebengipfel zu landen statt am eigentlichen Ziel)
o Zwischenzieleo    Effizienz-Divergenz, d.h. Situationen anstreben, die möglichst viele Handlungsoptionen mit relativ hoher Erfolgswahrscheinlichkeit offen lassen
o Frequency-Gambling (Was hat in der Vergangenheit funktioniert?)

  • Strategien zur Suchraumerweiterung:

o Freies Probieren (Trial & Error)
o Ausfällen des gemeinsamen nach Duncker (Welche Gemeinsamkeiten haben die bislang erfolglosen Lösungsversuche?)
o Analogieschlüsse

  • Wechselspiel von Suchraumeinengung und Suchraumerweiterung

Tendenziell zu fehlerhaftem Verhalten/Misserfolg verleitet hingegen:

  • Arbeitshypothesen werden als wahr hingenommen und nicht weiter hinterfragt.
  • Sprunghafter Themenwechsel, Aktionismus, Ablenkung
  • Übersteuerung
  • Gruppendenke/Groupthink (nach Janis)
  • „Reperaturdienstverhalten“/Muddling-Through (Konzentration auf die Behebung isolierter Missstände, wobei die Vorstellung des eigentlich angestrebten Zielzustandes auf er Strecke bleibt)
  • Überbetonung des aktuellen Motivs
  • Informationelle Überlastung
  • Similarity Matching (Tendenz, eher auf Ähnlichkeiten als auf Unterschiede zu reagieren)
  • Schematisierungen und Reglementierungen
  • Nichtberücksichtigung von Friktionen („Unvorhersehbarkeiten“)

Alles in allem eine empfehlenswerte Lektüre und bemerkenswert auch: Welches deutschsprachige Buch zu einem abstrakten, wissenschaftlichen Thema kann schon auf so viele Auflagen verweisen?

Mal wieder Zettelkasten

Hier gab es schon einmal eine Referenz an Luhmanns Zettelkasten. Etwas off-topic bin ich jüngst über literarische Zettelkästen gestolpert, also über Literaten, deren Werke auf Basis ihrer ausführlichen Recherchen in Zettelkasten-Form beruhen. Zu nennen sind in dieser Kategorie z.B. Arno Schmidt, Walter Kempowski oder Gerhard Henschel (Affilliate Links). Über Gerhard Henschels „Martin Schlosser“-Romane (Affiliate Link) bin ich zufällig in dieses Genre gerutscht. Ein bisschen hat man das Gefühl, dass sich deren Bücher quasi automatisch aus den Zettelkästen generieren. Umso erschlagender deren Fülle. Manchmal würde man sich vielleicht auch eine poentiertere Kürze statt einer Materialschlacht wünschen, aber da schöpfen die Autoren dann eben ihr mächtiges Werkzeug – den Zettelkasten – schonungslos aus („ich hatte leider keine Zeit mich kurzzufassen“).

Aber zurück zu meiner Urlaubslektüre von Gerhard Henschel, einer autobiographisch geprägten, eben Zettelkasten basierten Romanreihe über den Studienabbrecher und angehenden Schriftsteller Martin Schlosser. Verglichen mit der Seitenzahl passiert verdammt wenig, aber die Handlung ist auch eher sekundär, denn im Vordergrund steht das Panoptikum einer Zeit von den späten 60ern bis in die 90er und das Werk eines Ich-Erzählers ist angereichert mit unzähligen Fundstücken aus dem Zettelkasten: Zeitgeschichte, Zitate, Songtexte, Werbeslogans, Fußballergebnisse, Fernsehsendungen. Vermeintlich Belangloses, das sich in seiner Fülle zu einem Mosaik zusammensetzt, allerdings einem Mosaik mit Haltbarkeitsdatum. Wirklich nachvollziehbar ist dieses Mosaik nur für die plus/minus eine Generation, die dies alles selbst erlebt hat, für alle anderen Leser bleiben es vermutlich Belanglosigkeiten. Aber für diese Leser-Generation gibt es dafür unendlich viele Déjà-vus und sentimentale Erinnerungen. Ganz sicher nicht jedermanns Sache, über deren literarische Einordnung man auch streiten kann, für mich aber ein Wiedersehen mit eigener Kindheit und Jugend. Danke dafür.



bernhardschloss.de