Gelesen: Coaching, Beratung und Gehirn

Roth, Gerhard; Ryba, Alica; Coaching, Beratung und Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte; 5., durchgesehene und um ein Vorwort erweiterte Auflage; Stuttgart 2016 (Amazon Affiliate Link)

Nach der Lektüre bin ich hin- und hergerissen. In einigen Punkten scheint mir das Buch einseitig und nicht ausgeglichen, dem grundlegenden Verständnis der Autoren möchte ich mancherorts widersprechen und trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen ist die Lektüre wertvoll. Der Inhalt bereichert die Domäne und trotzdem kann man sich an ihm reiben, aber so entsteht Entwicklung.

Gerhard Roth war einer der bekanntesten deutschen Gehirnforscher und der Ansatz der beiden Autoren neurobiologische Grundlagen für Coaching und Beratung aufzuzeigen klingt vielversprechend und ja, ich habe das eine oder andere über Aufbau und Funktionsweise unseres Gehirns gelernt, nur die Rückübertragung und Anwendung in Coaching und Beratung sehe ich nicht – zumindest nicht in dem Umfang, wie ich es mir erhofft hätte.

Der Umgang mit Coaching und Psychoanalyse der Autoren ist sehr spitzzüngig, der (wissenschaftlich belegte) Wirkungsnachweis wird als Achillesverse identifiziert. Das eigene 4-Ebenen-Modell wird aber seltsamerweise keiner empirischen Überprüfung unterzogen.

Auch die Abgrenzung von Coaching und Psychoanalyse wird thematisiert. Es wird darauf hingewiesen, dass die gleichen (oder ähnliche) Konzepte und Modelle herangezogen werden, nur dass der Coachingbereich noch „unwissenschaftlicher“ sei. An dieser Stelle steckt – glaube ich – ein falsches Verständnis von Coaching und Psychoanalyse, denn klar, der Betrachtungsgegenstand ist der Gleiche, die unterschiedliche Motivation wird noch thematisiert, aber was fehlt ist eine Betrachtung der Mandatierung: Während die Psychoanalyse „therapeutisch“ legitimiert ist, sind dem Coaching Handschellen angelegt. Coaching (im beruflichen Kontext) beruht auf Freiwilligkeit (und nicht zwangsläufig auf einer Notsituation). Coaching passiert nicht nur zwischen Coach und Klient, sondern möglicherweise sind auch Arbeitgeber/Vorgesetzte involviert – vielleicht nicht in der direkten Coach/Klienten-Beziehung, aber möglicherweise im Rahmen der Personalentwicklung oder Finanzierung von det Janze. Es stehen also auch gewisse Interessenkonflikte im Raum, die den Handlungsspielraum für ein Coaching einschränken.

Die Zusammenfassung der Freudschen und der Ericksonschen-Lehre ist kompakt und liest sich gut, allerdings stellt sich mir die Frage, wie aktuell diese ist. Deren historischer Einfluss ist unbestritten, aber gefühlt basiert das Verständnis im Buch auf Theorien aus Anfang/Mitte des 20. Jahrhunderts (Freud 1856-1939, Erickson 1901-1980), es werden zwar auch neuere Werke angeführt, aber gefühlt stehen Sigmund und Milton im Raum.

An der einen oder anderen Stelle blitzt eine naturwissenschaftliche Überheblichkeit auf. Psychoanalyse wird als Geisteswissenschaft bezeichnet und die Geisteswissenschaft noch in Anführungszeichen gesetzt.

Systemische Coaching Ansätze werden aufgrund ihrer „nicht ausreichenden Konkretisierung“ und ihres „eklektischen Kerns“ (also einem beliebigen Cherry-Picking) kritisch gesehen, obwohl sich die Ansatzpunkte zur Problemlösung der eigenen Theorie dem wieder inhaltlich annähern.

Alles in allem handelt es sich um ein spannendes Buch, im besten Sinn des Wortes. Keine unumstößliche Wahrheit, aber eine echte Bereicherung.

#596 Risikomanagement und Intuition

Im aktuellen RiskNet-Newsletter ist ein Interview mit dem Neurowisenschaftler Prof. Dr. Bernd Weber und dem Beraterkollegen Axel Esser erschienen mit der Aufforderung sich im Risikomanagement nicht auf Intuition zu verlassen.

Hierzu entscheidend Bernd Weber:

Einerseits gibt es aus der Gehirnforschung die Aussage, analytisch-logische Verfahren sind hilfreich bei einfachen Entscheidungen und bei komplexen Entscheidungen ist Intuition besser. Das trifft so wohl auch für die alltäglichen Entscheidungen zu, die wir treffen müssen. Das ist allerdings anders, wenn es um unternehmerische oder finanzielle Entscheidungen unter Risiko geht. Da sollten wir uns lieber nicht auf Heuristiken oder Intuition verlassen. Intuition basiert auf der Fähigkeit der Mustererkennung im Gehirn, das heißt einer automatischen Abwägung von „gelernten Wahrscheinlichkeiten“. Das bedingt ein Umfeld, das hinreichend regelmäßig ist, um vorhersagbar zu sein und viele Gelegenheiten, diese Regelmäßigkeit durch langjährige Erfahrung zu bestätigen.

Diese Einstufung von Intuition erscheint mit plausibel und realistisch, aber was die komplexen unternehmerischen und finanziellen Entscheidungen angeht fehlt dieser Realismus gegenüber den dort nach Meinung von Weber und Esser anzuwendenden Methoden. Es ist wichtig die Grenzen der angewandten Methodik zu kennen. Was die Intuition angeht bin ich ganz bei den beiden, vermisse aber die relativierende Einschätzung anderer Methoden.

Wir leiden an einer Methodengläubigkeit ohne deren Grenzen zu thematisieren. Unsere Modelle sind logischerweise vereinfachend und unvollständig. Von der Intuition wissen wir, dass sie nicht perfekt ist, aber an Methoden klammern wir uns fest.

Wenn wir nicht hinreichend „gelernte Wahrscheinlichkeiten“ haben, können wir dann überhaupt die Zuverlässigkeit jedweder Methode beurteilen?

Nun, wir tun es wohl trotzdem. Ohne Kritikbewusstsein, Ein selbstkritisches intuitives Vorgehen  ist mir da lieber, wohlwissend dass die permanete Hinterfragung der Intuition keine leichte Hürde ist.



bernhardschloss.de