Zum Tod von Daniel Kahnemann
Mit 90 Jahren ist am 27. März Daniel Kahnemann gestorben. Andrian Kreye schreibt über ihn in der Süddeutschen Zeitung:
Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman hat den Mythos vom vernünftigen „Homo oeconomicus“ entzaubert und mit seinen Büchern ein Millionenpublikum begeistert. […]
[…], der Mann, der den Menschen gezeigt hat, wie sie denken und wie sie handeln. Der das Forschungsfeld der Verhaltensökonomie begründete und dafür 2002 einen Wirtschaftsnobelpreis bekam. […]
Er wusste um die Grenzen des Denkens bei den anderen, und deswegen auch bei sich selbst. […]
Es war vor allem seine Unterscheidung zwischen dem „schnellen Denken“ der Impulse und Emotionen und dem „langsamen Denken“ der Vernunft und Risikoabschätzung, die seine Wissenschaft der Verhaltensökonomie einer breiten Leserschaft begreiflich machte. […]
Sein Buch „Schnelles Denken, langsames Denken habe ich hier auch schon aufgegriffen. Aus gegebenem Anlass hier noch einmal:
Daniel Kahnemanns mehr als lesenswertes Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ ist so etwas wie das Resümee eines großartigen Denkers. Kahnemann führt auch den Laien in die state-of-the-art Kognitionspsychologie ein und zeigt, wissenschaftlich fundiert und trotzdem leicht lesbar wie wir „Ticken“ und „Entscheiden“. Gleichzeitig ist es so etwas wie die Bilanz eines Lebenswerkes.
Das Rationaltiätskonzept eines Homo Oeconomicus ist längst überholt und Kahnemann hat für seinen Beitrag zur Neuen Erwartungstehorie immerhin den Wirtschafts-Nobelpreis bekommen.
Kahnemann beschreibt das Modell zweier kognitiver Systeme (System 1: für schnelles Denken, System 2: für langsames Denken) und deren Zusammenspiel.
Mit diesem Modell lassen sich zahlreiche Verhaltens- und Entscheidungsmuster psychologisch erklären, z.B.:
- Ersetzungen (wenn wir eine schwierige Frage durch eine andere Ersetzen, die wir leichter beantworten können)
- Mentale Ressourcen (die natürlich nicht unbeschränkt sind)
- Priming (unsere Beeinflussung durch vorangegangene Reize)
- Mere-Exposure-Effekte (häufigere Darbietung führt zu positiver Bewertung)
- HALO-Effekt (der erste Eindruck wird verstärkt, manchmal soweit, dass nachfolgende Informationen größtenteils unberücksichtigt bleiben)
- WYSIATI ( What You See Is All There Is – Wir unterliegen der Illusion, dass die uns vorliegenden Informationen die Entscheidungssituation bereits vollständig beschreiben)
- Gesetz der kleinen Zahlen (überzogener Glaube an die Aussagekraft kleiner Stichproben und die Fehlinterpretation kausaler Erklärungsmuster)
- Ankereffekte (insbesondere bei Schätzproblemen werden wir von einer Zahl oder Aussage beeinflusst, die offenkundig keinen Informationsgehalt hat)
- Affektheuristiken (Welche Gefühle weckt das in mir? Statt: Was denke ich darüber?)
- Kognitive Verzerrungen
- Regression zum Mittelwert
- Kohärenz der besten Geschichte
- Falsche kausale Interpretation von Regression
- Narrative Verzerrungen (fehlerhafte Geschichten über die Vergangenheit prägen unsere Weltanschauungen und Zukunftserwartungen)
- Rückschaufehler (sobald wir uns eine neue Sicht der Welt (oder eines Teils von ihr) zu eigen machen, verlieren wir sofort einen Großteil unserer Fähigkeiten, uns an das zu erinnern, was wir glaubten, ehe wir unsere Einstellungen geändert haben)
- Tendenz zur Sinngebung („Die Sinngebungsmaschinerie von System 1 lässt uns die Welt geordneter, einfacher, vorhersagbarer und kohärenter sehen, als sie tatsächlich ist.“)
- Kompetenzillusion (selbst bei gleicher Information kommen selbst Experten zu unterschiedlichen Ergebnissen, z.B. am Aktienmarkt)
- Optimistische Verzerrung (die meisten von uns sehen die Welt positiver, als sie ist)
- Beurteilung seltener Ereignisse (Überschätzung und Übergewichtung seltener Ereignisse)
- Fokussierung & Übergewichtung
- Mentale Buchführung & Framing (wir führen für jeden Einzelfall getrennt Buch und fällen unsere Entscheidungen dann aufgrund der jeweiligen Buchhaltung statt in der Gesamtsicht)
- Dispositionseffekte
- Framing-Effekte (ungerechtfertigte Einflüsse von Formulierungen auf Überzeugungen und Präferenzen)
- Tyrannei der erinnernden Selbst (die Verwechslung der Erinnerung mit der tatsächlichen Erfahrung)
- …
Diese psychologischen Phänomene beschreibt Kahnemann mit vielen Beispielen und empirischen Untersuchungen und zeigt uns ihre Rolle in dem Modell der zwei kognitiven Systeme.
Die Lektüre ist aufgrund der vielen Beispiele und auch der autobiographischen Anmerkungen anschaulich, spannend und amüsant. Auch Kahnemann nimmt sich nicht aus und beschreibt wie er selbst immer wieder diesen Effekten erliegt. Die biographischen Aspekte sind keine Selbstüberhebung sondern veranschaulichen die Entwicklung der Kognitionspsychologie.
Wer dieses Buch gelesen hat, wird viele Entscheidungen und Verhaltensmuster mit denen wir konfrontiert werden in einem anderen Licht sehen und wer schon tiefer in der Materie steckt, wird Bestätigung finden und kann sich dennoch an den zahlreichen Beispielen amüsieren.
Absolut eine Leseempfehlung! Mehr noch als viele Fach- und Methodenbücher, weil es unser Denken nachhaltig beeinflusst.
Daniel Kahnemann Schnelles Denken, langsames Denken (Amazon Affiliate Link) Siedler Verlag München 2012
P.S.: Kahnemann liefert genau das, was ich an Julian Nida-Rümelins „Rationalitätsfalle“ (Amazon Affiliate Link) bemängelt habe: Die kognitionspsychologische Kritik am Homo Oeconomicus ist längst in den Wirtschaftswissenschaften angekommen.
P.S.2 (29.03.2024): Die Kollegen Karen Schmidt und Frank Habermann von Over the Fence versuchen seit einiger Zeit schnelles und langsames Denken auch im Projekt- und VUCA-Kontext zu thematisieren (z.B. im Projektmagazin, mit ihrem Manifest oder in ihrem Buch Hey, nicht so schnell (Amazon Affiliate Link)).
Tags: Buch, Gelesen, Kahnemann, Kognitionspsychologie